Leseprobe


Kiez und Küste


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„Zum Goldbarren“, so hieß eine der bekanntesten Kneipen auf dem Kiez in Hamburg - St. Pauli. Hier verkehrte ein bunt gemischtes Publikum. Neugierige Touristen, die sich unter Hamburger Partygänger mischten, waren ebenso vertreten wie seriöse Geschäftsleute und Hamburger Promis. Aber auch schillernde Gestalten der Hamburger Unter- und Halbwelt schätzten dieses Traditionslokal. An manchen Abenden waren hier Herrschaften vertreten, die zusammen etliche Jahre Knast repräsentierten. Gleichwohl ging es meistens einigermaßen gesittet zu. Dafür sorgte der strenge Wirt, Paul Bruhns, der die Kneipe im Lauf mehrerer Jahrzehnte zu einer Kultstätte auf St. Pauli gemacht hatte.


Unerklärlich war für die Stammgäste, wie Paule - so nannten ihn seine Freunde - es immer wieder fertigbrachte, die hübschesten Bedienungen zu engagieren. Paule achtete sehr darauf, dass die Mädchen nicht nur gut aussahen, sie mussten auch bereit sein, mit Kleidung äußerst sparsam umzugehen. Paule wusste genau, dass leicht bekleidete, gut gebaute Damen besonders an-ziehend auf seine vorwiegend männlichen Gäste wirkten. So war es nicht verwunderlich, dass seine Bude jeden Abend gerammelt voll war.


Eine „Bedienung“, die das Konzept von Paule gut verstanden hatte, war Wiebke Jansen, die seit einiger Zeit zu den Stammkräften im „Goldbarren“ zählte. In ihrem früheren Job war sie auf der Insel Amrum im „Gasthaus zum Pharisäer“ tätig, wo sie als Servicekraft den Vorzug einer Ganzjahresanstellung genoss. Die Wirtsleute Silke und Nils Hansen hatten ihr wegen ihrer Zuverlässigkeit und ihres Engagements sogar eine Perso-nalwohnung zur Verfügung gestellt. Wiebke fühlte sich sehr wohl auf der Insel und wäre wohl nie nach Hamburg gegangen, wenn da nicht die Sa-che mit dem Feuer passiert wäre. Die Wirtsleute hatten plötzlich kein Gasthaus mehr und deshalb auch weder Job noch Wohnung für sie. Auch wenn sie bis zum Saisonende weiter bezahlt wurde, sie musste sehen, wie es weitergehen würde.


Seit der Schulzeit hielt Wiebke immer Kontakt zu ihrer besten Freundin Anna Schöne, die auch im Gastgewerbe tätig war, und zwar im „Goldbarren“ auf St. Pauli. Anna hatte schon öfter von den dortigen Arbeitsbedingungen und den außergewöhnlichen Verdienstmöglichkeiten geschwärmt. In ihrer Kneipe verkehre ein tolles Publikum, un-ter dem sehr häufig auch großzügige Herren waren, die für ein wenig „Zuwendung“, wie sie es nannte, kräftig zu zahlen bereit waren.


Anna reagierte auf den Anruf von Wiebke hoch erfreut. „Natürlich frage ich meinen Chef, ob du bei uns arbeiten kannst. Er wird dich nur vorher sehen wollen! Und wegen eines Zimmers mach dir keine Sorgen, du kannst zunächst bei mir einziehen, bis du eine für dich geeignete Bleibe gefunden hast.“


Und so kam es.


Wiebke stellte sich bei Paul Bruhns vor, der von ihrer Erscheinung sehr beeindruckt war. Sie hatte sich für das Vorstellungsgespräch sehr zurückhaltend gekleidet, eben „hanseatisch“. Gewählt hatte sie ein dunkelblaues Kostüm, dessen Rock züchtig die Knie bedeckte. Unter der Kostümjacke verlieh ihr eine hochgeschlossene Bluse ein außerordentlich seriöses Aussehen. Auf auffälligen Schmuck hatte sie verzichtet. Geschminkt war sie ebenfalls sehr dezent.


Das alles konnte Paul Bruhns nicht täuschen. Ihm war sofort aufgefallen, dass die konservative Kleidung Schätze verhüllte, die es zu heben galt. Die Frau hatte eine umwerfende Figur. Wegen ihrer phantastischen Oberweite trug sie die knapp geschnittene Kostümjacke offen. Allein dieser Anblick hätte ihn schon überzeugt.


Nur selten hatte er ein so attraktives Mädchen getroffen, das zugleich in der Gastronomie gelernt hatte. Häufig hatte er zugunsten des Aus-sehens auf die Qualifikation als Servicekraft oder Bardame verzichtet und viel Mühe auf sich genommen, um die „Schönheiten“ auszubilden. Die Prioritäten sahen bei ihm nun einmal anders aus als in einem normalen Gastronomiebetrieb. Er brauchte Mitarbeiterinnen mit einer sexy Ausstrahlung, die es mit den Moralbegriffen nicht allzu genau nahmen. Man war schließlich auf dem Kiez.


Mit Wiebke stand nun eine junge Frau vor ihm, die beides, Attraktivität und Qualifikation in idealer Weise verkörperte. Wiebke beeindruckte ihn wirklich: Naturblonde lange Haare, fast 1,80 Meter groß und eine Figur, bei der man schwach werden konnte. Mit Frauen, die die Ideale der Modebranche bedienten und in gewisser Weise unterernährt waren, konnte er überhaupt nichts anfangen. Bei ihm mussten Frauen wie Frauen aussehen, d.h. sie sollten ordentlich „etwas in der Bluse haben“ und auch ansonsten sehr weiblich geformt sein. Wiebke entsprach genau seinen Vorstellungen. Da passte alles. Sie beeindruckte ihn nicht nur mit ihrer Oberweite, auch ihr Hinterteil war eine Sensation. Diese Frau musste er einfach für sein Etablissement gewin-nen.


„Wenn du“ - man hielt sich hier nicht lange mit dem „Sie“ auf - „dich mit dem Dresscode unseres Hauses anfreunden kannst, bist du dabei“, schlug er ihr vor.


„Was bedeutet das?“ fragte Wiebke, die von ihrer Freundin ja schon einiges über die „Arbeitsbedingungen“ im „Goldbarren“ erfahren hatte.


Paule hielt nicht lange mit seinen Vorstellungen hinter dem Berg: „Naja, unsere Kunden wollen den Aufenthalt bei uns genießen. Da geht es nicht nur um Getränke, wir müssen auch etwas fürs Auge bieten. Also, du musst schon zeigen, was du hast.“


„Was heißt das konkret?“


„Ich erwarte, dass du viel von deinen herrlichen Brüsten zeigst und dass du einen kurzen Rock trägst, der den Blick auf deine langen Beine freigibt. Ob du einen Slip trägst, überlasse ich dir, aber besser ist natürlich ohne. Alles Weitere ergibt sich.“


Paule, der bei dieser Erläuterung vielsagend lächelte, war sich sicher, dass er sie überzeugen würde. Von Anna hatte er ja schließlich erfahren, in welcher Situation Wiebke war. Sie brauchte den Job.


„Muss ich mit den Gästen ins Bett gehen?“ Wiebke war skeptisch. 


„Wo denkst du hin? Wir sind kein Puff. Du sollst zu den Gästen nett sein, damit sie sich bei uns wohlfühlen und eine ordentliche Zeche machen. Was du in deiner Freizeit machst und mit wem du in die Kiste steigst, geht mich nichts an und interessiert mich nicht.“


Paule hoffte, sie damit zu beruhigen. Dass die Realität manchmal etwas anders aussah, würde sie schon noch rechtzeitig erfahren. Sein Augen-zwinkern ließ darauf schließen, dass er durchaus selbst Interesse an einer näheren Beziehung zu Wiebke hatte. Aber die würde sich schon noch ergeben, wenn sie erst einmal in seiner Kneipe tätig war, dachte er. Er musste sich eingestehen, dass diese Frau eine sehr erotische Ausstrahlung hatte, die auch ihn nicht kalt ließ. Er würde alles tun, um sie zu erobern. Als ihr Chef müsste das doch wohl gelingen.


Wiebke nahm den Job an und war ab sofort eine der Damen, die sich um das Wohl der Gäste im „Goldbarren“ zu kümmern hatten. Im Laufe der Zeit lernte sie viele interessante Leute kennen, darunter auch einige Herren, die von ihr mehr erwarteten, als einen Drink serviert zu bekom-men. Sie blieb standhaft, was vom Chef wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Vielleicht würden sich ja seine Chancen bei ihr verbessern.


Eigentlich fühlte Wiebke sich richtig wohl, lediglich die Tatsache, dass sie noch immer keine geeignete Wohnung gefunden hatte, machte ihr Sorgen. Die Wohnungen, die ihr gefielen und die entfernungsmäßig gepasst hätten, waren von ihrem Gehalt nicht bezahlbar. Ihrer Freundin, bei der sie noch immer wohnte, ging es da deutlich besser. Allerdings war Anna auch bereit, sich den einen oder anderen „Liebesdienst“ von Stamm-gästen großzügig honorieren zu lassen. Das kam für Wiebke jedoch nicht infrage, jedenfalls noch nicht.


Eines Tages hatte Wiebke wieder einmal Dienst an der Bar. Das war immer eine besondere Herausforderung, jedenfalls was ihr Outfit betraf.  Mittels einer Büstenhebe unter ihrem Top sorgte sie dafür, dass besonders viel von ihren herrlichen Brüsten preisgegeben wurde. Der Rock endete knapp unter ihrem prallen Po, was aber den meisten Gästen verborgen blieb, weil sie ja hinter der Bar stand.


 

Am späten Abend setzte sich ein Typ zu ihr an die Bar, der zweifelsfrei dem Rotlichtmilieu zuzuordnen war. Er machte einen sehr gepflegten Eindruck, obwohl es zu seinem Vorteil gereicht hätte, wenn  die vollen schwarzen Haare etwas kürzer gewesen wären. Seinen Hang zu extravaganten Accessoires konnte er nicht leugnen. Unter seinem perfekt sitzenden schwarzen Anzug trug er ein schwarzes Seidenhemd, von dem die oberen drei Knöpfe geöffnet waren, was den Blick auf ein etwas zu groß geratenes goldenes Kreuz freigab, das an einer schweren, goldenen Kette hing. Am rechten Handgelenk trug er eine protzige Rolex, und an der linken Hand zierte ein Brillantring den kleinen Finger. Sein Outfit wurde ergänzt durch ein knallrotes, seidenes Einstecktuch, das - etwas zu üppig arrangiert - als einziger Farbtupfer seine Erscheinung komplettierte.


Wiebke schätzte ihn auf Mitte 40 und stellte für sich fest, dass der Kerl trotz der etwas übertriebenen Fassade auf sie einen sympathischen Eindruck machte. Der wurde noch verstärkt, als sie seine Stimme vernahm. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass eine sonore Männerstimme auf Frauen einen positiven, ja manchmal sogar erotisierenden Eindruck macht. So war es jedenfalls auch bei Wiebke, die schon bei seinen ersten Worten Feuer fing.


„Guten Abend schöne Frau, ich finde, dass Sie unglaublich gut aussehen.“


„Danke“, mehr konnte Wiebke nicht sagen. Sie war beeindruckt. Und schon fuhr ihr durch den Kopf, was ihre Freundin Anna ihr erzählt hatte: Sie möge sich vor den Zuhältern auf St. Pauli in Acht nehmen, die zunächst auf „charmant“ machten, dann aber auf äußerst fiese Art und Weise die Frauen auszunutzen wussten und in eine höchst unangenehme Abhängigkeit drängten. Diesen Gedanken verwarf Wiebke jedoch sofort. Dieser attraktive Mann konnte unmöglich zu der Sorte Männer gehören, vor der Anna sie gewarnt hatte.


„Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mit mir ein Glas Champagner trinken würden. Bitte sagen Sie nicht nein. Ich bin übrigens Boris, nennen Sie mich einfach Bo.“


Wiebke stimmte sehr gerne zu, denn dieser Mann faszinierte sie. Es war nichts dagegen einzuwenden, ihn näher kennenzulernen.


Und so nahmen auf St. Pauli die Dinge ihren Lauf.


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